Plädoyer für eine weltfremde einzigartige Erziehung

Nachdem ich heute mal wieder einen Blick in die Zeitung geworfen und fast nur noch Artikel über den so dringend notwendigen Ausbau von Ganztagesschulen gesehen hab, muss der Beitrag jetzt doch sein.

Am Sonntag hab ich wohl erfolglos aus irgendeinem Grund versucht, meiner Mutter zu erklären, wie schlimm es für mich war, mich mit dieser Erziehung und Welt(un)erfahrenheit im täglichen Leben außerhalb der Familie zu bewegen. Dass es beinahe jeden Tag so war, als ob ich als Außerirdischer irgendwo ausgesetzt wurde und von gar nichts was weiß. Ich hab mich dran gewöhnt gehabt, bin es jetzt immer noch oft, auch wenn ich heute "integriert" in diese Welt bin wie nie zuvor.

Ich glaub immer noch, dass der normale Durchschnittsmensch das wohl nie wirklich verstehen kann. Wenn auch jeder bis zu einem gewissen Grad die Erfahrung macht, mal nicht mitreden zu können, so ist das immer nur ein begrenztes Gebiet. Bei mir auch, natürlich, aber es ist was anderes, ob man "noch nie im Ikea war" und deswegen nicht weiß, wie man sich da benimmt, oder ob man irgendwann das Gefühl hat, kein Gespräch führen zu können, ohne mindestens die Hälfte nicht nachvollziehen zu können. Selbst unter Freunden merkt, dass man sich keine Vorstellung von ihrem Leben machen kann. Ich erinner mich an einige so Situationen, im Rückblick ist das eher lustig, auch damals hab ichs nicht als schlimm empfunden, ich kannte ja nichts anderes. Aber wenn man in der 8. Klasse zum Abschluss gemeinsam ins Kino geht, die Klasse eifrig über den Film diskutiert und ich selber noch nie im Kino war (ehrlich...) und keine Vorstellung davon hab, von was die reden, dann ist das nicht ganz leicht gewesen. Vor allem weil ich mir nie was anmerken lassen wollte. Oder Freundinnen miteinander übers Shopping am Wochenende reden, von "H und M", NewYorker, C&A und Müller, und ich einfach keinen von den Namen schon mal gehört hab, noch nicht mal weiß was man da verkauft... Oder man versucht mir nur nen Weg zu beschreiben, wenn ich schon mal zugegeben hab, dass ich nicht weiß, wo ich denn das Kino find: "Also du kommst dann den Marienplatz runter (Marienplatz??) und dann...weißt du, wo der Müller ist?" Ähhh...nee...(was um Himmels willen ist der Müller?) Kurz und gut, irgendwann hab ichs aufgegeben, irgendjemand nach irgendnem Weg zu fragen ;) und musste mir das später erst wieder angewöhnen. Auf jeden Fall, heute lach ich über diese Situationen, aber das war wirklich so. Ich hab mich nie wirklich wohl gefühlt und bin mir die ganze Zeit nur vorgekommen wie ein Außerirdischer. Jeder redet von McDonalds wie von seinem zweiten Zuhause und ich hab noch nie in meinem Leben nen Hamburger gesehn.

Meine Mutter war nach meinen Erzählungen irgendwann fast verunsichert und hat gemeint, was sie denn hätte anders machen sollen? Irgendwie dachte sie, ich würde ihr Vorwürfe machen wollen. Und sie hat mir von Alkoholproblemen von irgendwelchen Verwandten erzählt, und dass sie uns doch nur bewahren wollte.
Natürlich, ich bin mir doch auch nie eingesperrt vorgekommen, ich durfte doch alles, wirklich alles. Ich wollte nur nicht. Keine Ironie. Ich bin mir noch nicht mal "bewahrt" vorgekommen. Ich wollte vieles nur selber nicht, weil ich doch nur kannte, was mir erzählt wurde.

Noch ein Beispiel: Die liebe kleine Tochter findet ne uralte Abizeitung vom Gymi, liest die aufmerksam und kriegt dann erzählt: "Versprich mir, dass du nie ins Czardas gehst, weil da gibts Drogen". Wo es Drogen gibt, da will doch die liebe kleine Tochter sowieso nicht hin, mit kindlicher Fantasie denkt sie sich aus, wie schrecklich das Czardas wohl ist. Und das Ganze hat den Vorteil, dass sie Jahre später immer noch ne Vorstellung vom Czardas hat (auch wenn sie nicht weiß, wo das liegt...nicht in ihren kühnsten Träumen hätte sie das gedanklich mitten in die Innenstadt gelegt, schon allein, weil "die Hochstatt" sowieso was völlig Unbekanntes war). Meine Eltern würden wohl abstreiten, dass sie mir je das Czardas verboten haben, und sie haben damit sicher recht, dass sie es nicht so gemeint hatten. Mir ist die Szene nur deswegen überhaupt in Erinnerung geblieben, weil es so äußerst selten vorkam, dass sie mich wirklich vor was gewarnt haben.

Aber genug von den Beispielen. Ich glaub, ich könnt noch ewig so weitererzählen, vieles haben bestimmt andre auch so ähnlich erlebt.

Was ich eigentlich sagen wollte: Ich bin im Nachhinein dankbar dafür. Und ich würde meinen Kindern die gleichen Erfahrungen wünschen. Das ist kein Sadismus, nein, ich finde wirklich, eine Portion mehr Weltfremdheit würde vielen nicht schaden. In dem Sinn, dass man selbst andere Erfahrungen hat als andere. Dass man die Welt anders betrachtet, aus einer anderen Perspektive und mit anderem Blickwinkel. Vielleicht versteh ich nicht jeden Klatsch und Tratsch, oder kann nicht über Fernsehgewohnheiten mitreden, aber manchmal hab ich doch das Gefühl, mehr sehen zu können als viele andere, und hinter die Kulissen zu schauen. Ich sollte mich mehr politisch engagieren, ja, ich hätte viel zu sagen. Sicher genauso nur von außen übernommene Vorstellungen, wie das bei jedem so ist. Aber es wären wirklich andere Einflüsse, die mich geprägt haben, und das ist doch wohl für eine Demokratie besonders wichtig.

Diese Einheitsmenschen, wie mir ganz viele andere lange Zeit vorkamen, weil ich selber so anders war, die haben auch eine Einheitsmeinung. Von meinem extremen außerirdischen Standpunkt aus zumindest. Natürlich ist aber jeder stolz auf seine eigene Meinung. Ich glaube, eine wirkliche eigene Meinung kann man nur entwickeln, wenn man eigene Erfahrungen hat, die sich von denen der anderen unterscheiden. Keiner ist gern ganz allein, würd ich mal so behaupten. Ich bin also im Nachhinein wirklich froh über meine Weltfremdheit. Und in Ganztagesschulen, um zum Anfang zurückzukommen, sollen die Kinder den ganzen Tag pädagogisch sinnvoll mit aufeinander abgestimmten Inhalten gefüttert werden. Wie wärs denn damit, die Eindrücke absichtlich NICHT aufeinander abzustimmen? Wie wärs denn damit, die Kinder nachmittags in ihre weltfremden Familien zurückzuschicken, wo sie überhaupt nicht gefördert werden? Dann traut man dem Kind selbstständiges vernetztes Denken auch wirklich zu. Ich glaub nicht, dass die damit überfordert sind.

Archiv

Juli 2007
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 
 2 
 4 
 5 
 8 
11
14
15
16
19
21
23
24
25
26
 
 
 
 
 
 

neueste Kommentare

Suche

 

RSS


Creative Commons License

xml version of this page

AMICUSSE ET AMATOREN VOLO
CORAM PUBLICO
DELIBERO MEDITARI ORATIONES
DENKARIUM
DIFFICILE EST SATIRAM NON SCRIBERE
DUCTUS TEMPORE QUAERO
EGO
EX VITA
FERO RELATUM
FORTIS EST VERITAS
GAUDEAMUS IGITUR
HORRIBILE DICTU
IN PECTORE
INTERRETICULO
INVENTUM NEVE
NOMEN EST OMEN
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren